CITIZENFOUR alias Edward Snowden in deutschen Kinos
US-Filmemacherin und Journalistin Laura Poitras filmte im Jahr 2013 das Porträt von einem jungen Mann. Sie hatte zuvor nur sein Pseudonym CITIZENFOUR gekannt, unter dem er ihr über mehrere Wochen verschlüsselte E-Mails geschickt hatte. Im einem anonymen Hotelzimmer nennt er Poitras vor laufender Kamera seinen Namen als Bürger: Edward Snowden.

„Edward Snowden“ als Begriff in der Google Bildersuche. Videostills, Filmplakate, Bildzitate, Trailer und Rezensionen. Das Filmteam, Snowdens Lebensgefährtin Lindsay Mills. Quelle: Google Images
Laura Poitras komponierte aus ihrem Material den abendfüllenden Dokumentarfilm CITIZENFOUR. Sie erzählt über ihre Erlebnisse mit Snowden. Gemeinsam mit Freedom of the Press Journalist Glenn Greenwald und Verteidigungs- und Geheimdienst-Reporter Ewen McAskill vom Guardian stellt sie ihm Fragen über sein Leben und seine Mission. Man spricht über die Überwachung der Weltbevölkerung durch Geheimdienste.
Speicherkarten liegen auf Edwards Snowdens Nachttisch. Auf ihnen sollen streng geheime Informationen gespeichert sein. PowerPoint Präsentationen hat er mitgebracht. Sie illustrieren die Netzwerke und Werkzeuge, die der US-Behörde NSA (National Security Agency) zur Verfügung stehen sollen. Edward Snowden erzählt, als Mitarbeiter eines Subunternehmens der NSA habe er in einer Position als Systemadministrator zu allen klassifizierten Informationen Zugang gehabt. So konnte er Datensätze als Beweis für die Aktivitäten dieser US-Behörde heimlich kopieren und mitbringen.

Wir befinden uns in Hongkong, Hotelzimmer von Edward Snowden. Auf dem Nachttisch: Snowdens Mitbringsel aus dem Herzen der NSA. Drei Speicherkarten, USB-Sticks, eine Halskette, ein Flaschenöffner und ein kleines Vorhängeschloss. Quelle: CITIZENFOUR
Edward Snowden wolle seinem Volke dienen, indem er die rechtswidrigen Aktivitäten der NSA offenlegt und weitergibt, legitimiert er sein Tun. Von Journalist Greenwald erwartet er, dieser möge diese Gefahr für Privatsphäre und Meinungsfreiheit an die Öffentlichkeit bringen. Mithilfe der Unterstützung von Filmemacherin Laura Poitras bekommt Snowden Kontakt zu Greenwald, der seine Botschaft über US-Medien (CNN) und den britischen Guardian auch tatsächlich in die Welt schickt.
Snowdens neue Lebensaufgabe ist Whistleblower.
Ein Oscar für Laura Poitras, der Sieg für Edward Snowden
Laura Poitras Werk CITIZENFOUR erhielt schon vor der Oscar-Verleihung am 22. Februar 2015 zahlreiche Auszeichnungen. Die englischsprachige Filmwelt scheint ganz aus dem Häuschen zu sein über dieses Werk und unterstützt die Verbreitung von Snowdens Geschichte.
Insbesondere in den USA und Großbritannien regnete es Awards.
- British Academy of Film and Television Arts Award, Bester Dokumentarfilm
- Directors Guild of America, Herausragende Regieleistung für einen Dokumentarfilm
- International Documentary Association, Bester Langfilm
- London Film Critics Circle
- National Society of Film Critics (U.S.)
- Women Film Critics CircleLos Angeles Film Critics Association
- New York Film Critics Circle
CITIZENFOUR erhielt auch den Oscar für den besten abendfüllenden Dokumentarfilm. Um kurz vor fünf Uhr morgens, 23. Februar 2015 MEZ, wurde das Ergebnis live aus dem Dolby Theatre in Los Angeles verkündet. Der Favorit hatte sich durchgesetzt, der Sieg von CITIZENFOUR wurde einstimmig in sämtlichen Oscar predictions prophezeit. Auf Wikipedia war das Resultat fünf Minuten nach der Verkündigung schon eingetragen.

Laura Poitras überglücklich mit Journalist Glenn Greenwald im Moment der Verkündigung des Oscars für CITIZENFOUR. Quelle: Pro7
Laura Poitras spricht mit dem Oscar im Arm zur versammelten Filmgemeinde vor Ort und zur ganzen Welt an den Bildschirmen:
We don’t stand here alone. The work that we do which is seen by the public is possible through the great organizations that support us.
Die erste Erwähnung vom OSCAR an Poitras im deutschsprachigen Netz ging unmittelbar nach der Verlautbarung online. Der erste deutschsprachige Artikel über den Sieg von CITIZENFOUR erschien um 05:25 MEZ in Google.de. Ein wahrer Ansturm auf den Film folgte, zigtausende Menschen wollten ihn sehen.
CITIZENFOUR im Sucher der ENDO-Kritik
Am 1. Februar 2015 nehme ich beim transmediale Festival „Capture ALL“ an einem Salon zu Medienkritik teil. Künstler Jamie Allen und Kulturwissenschaftlerin Claudia Mareis laden gemeinsam mit DesignerInnen und DenkerInnen zum Diskurs ein.

Zur Frage „was kommt nach der Kritik“ debattieren wir über eine geheimnisvolle These:
After critique, comes endo-critique (critique from within)
Was ist mit diesem Begriff gemeint: Endo-Kritik? Wir sammeln in offener Runde Ideen. „Endo“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „innen“. Endo-Kritik wäre also als eine Kritik innerhalb der Kritik zu verstehen – die Antwort auf die Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung. Wenn die Endo-Kritik nach der Kritik kommt, ist sie ein Resultat aus der Kritik. Ein Teilnehmer hat eine Idee.
Critique from within: like Edward Snowden?
Das Publikum lacht. Whistleblower verkörpern Endo-Kritik, schlägt der Teilnehmer vor. Die Endo-Kritik befindet sich in einem rationalistischen Container, so lautet die Theorie. Es handle sich wohl um ein „Eindringen, ein wahres Verständnis von den Bedingungen. Ein systemisches Denken mit einer eigenen, funktionsfähigen Logik“.
Ich versuche, mir dies anhand von einem konkreten Beispiel vorzustellen und melde mich mit einer Idee.
Könnte man annehmen, Whistleblower Edward Snowden verkörpert in diesem Komplex die Kritik und Endo-Kritik würde seine Authentizität in Frage stellen?
Meine Frage verursacht erstaunte Gesichter im Publikum des Salons.
Edward Snowdens Authentizität
Was meinst du damit, Edward Snowden ist Fake? Ich verstehe nicht, wie diese Schlussfolgerung funktioniert.
Eine Teilnehmerin hakt nach. Edward Snowdens Geschichte ist zu glatt. Ich versuche, meinen Verdacht über Snowdens konstruierte Identität in Worte zu fassen und finde amüsierte Bestätigung im Publikum.
Edward Snowden is computerized!
Wäre Edward Snowden eine Hauptfigur in einem Spielfilm – er wäre der Agent in einer Geheimdienst-Satire.

„Ich will den deutschen Journalisten nicht vorgreifen“. Als der deutsche Journalist Hubert Seipel nach Wirtschaftsspionage durch die NSA in Deutschland fragt, verbirgt sich Snowden hinter der asymmetrischen Maske der Geheimhaltung. Quelle: NDR
Seit ich das erste Interview von Edward Snowden mit Hubert Seipel für die ARD verfolgte, meldeten sich bei mir Zweifel an Snowdens Mission. Der vogelfreie Whistleblower weicht Seipels Blick aus, Snowden starrt auf den Teppich. Sein Blick wandert unschlüssig umher. Bei konkreten Fragen bleibt er unkonkret. Als er nach der Rolle des BND im Abhörskandal gefragt wird, grinst Snowden schräg.
Ob der BND der NSA aktiv Informationen übermittelt, darf ich nicht sagen.
Wer glaubt denn so etwas … Die exaltierte, wenngleich monotone Sprechweise Snowdens erinnerte mich an Gymnasiasten beim auswendigen Vortrag.

Es ist doch nur ein Film
Wir leben im Staatsgefüge der repräsentativen Demokratie. Wir entscheiden nicht selbst über unsere politische Entwicklung, vielmehr überlassen wir sie demokratisch gewählten Volksvertretern.
Ebenso leben wir in einer repräsentativen Wirklichkeit. Wir übertragen die Entscheidung, was Realität ist und was Fiktion, auf die vierte Gewalt. Um uns Bürgerinnen und Bürger aufzuklären, gibt es den Berufsstand der Journalisten, Reporter und Berichterstatter. Von ihnen lassen wir uns Geschichten aus der großen weiten Welt erzählen. Wir müssen darauf vertrauen, dass ihre Erzählungen wahr sind, ebenso wie wir darauf vertrauen müssen, dass die von uns gewählten PolitikerInnen das Beste für uns wollen.
Mediale Geschichten erreichen uns in unterschiedlichsten Formensprachen. In Zeitungsartikeln, in den Nachrichten aus Fernsehen und Radio. In Texten im Netz, in Online-Videos, in Interviews auf Youtube. In Dokumentarfilmen, Fotos auf Instagram und in Twitterbotschaften. Letztendlich aber auch durch die mündliche Überlieferung der Nachbarin. Sie alle formen unser Bild von der Welt in unseren Köpfen. So entsteht eine neue Stufe von Realität: die mediale Wirklichkeit.
Investigativer Journalismus wird unterstützt von Redaktionen und sucht in der analogen Welt durch umfassende Recherche nach Spuren von Wahrheit, aus denen eine überzeugende Geschichte entsteht, die die BürgerInnen eines Staates über die Wirklichkeit aufklären sollte.
Wer untersucht investigativ die mediale Wirklichkeit?
Wenn Kritik die Presse repräsentiert, ist dann Endo-Kritik die kritische Auseinandersetzung mit der von der Kritik erzeugten medialen Wirklichkeit durch diejenigen, die aus dem kritisierenden System ihre Wirklichkeit rahmen? Ist Endo-Kritik ein beschreibendes Muster für die fünfte Gewalt der Schwarmintelligenz im Netz?

Die Bedeutung von CITIZENFOUR
Der Deckname des unbekannten Informanten, der sich in verschlüsselten E-Mails an die investigative Dokumentarfilmemacherin Poitras wendet, lautet CITIZENFOUR. Später wird dies auch Laura Poitras Filmtitel über ihre investigative Dokumentation der NSA Affaire werden. Was soll der Begriff ausdrücken? Wie kommt dieser junge Geheimagent auf so einen Namen? Bürger vier?
Wenn man von Vierter Gewalt spricht, ist üblicherweise die Presse gemeint. Unsere Grundwerte erwarten von der vierten Gewalt eine unabhängige Position gegenüber Politik, Polizei und Gerichtsbarkeit. Sie soll uns über die Vorgänge der anderen drei Gewalten informieren.
Ich nehme an, dass die Kombination aus „Citizen“ und „FOUR“ auf die aufklärerische Macht der Bürgerinnen und Bürger ohne offiziellen Repräsentationsauftrag anspielen möchte. Dadurch soll Edward Snowden als Whistleblower legitimiert und als Vertreter der aufklärenden Zunft anerkannt werden. Snowden hat nicht nur die Ambition, seine Behörde zu verraten. Er will, anders als NSA Informanten vor ihm, selbst als investigativer Journalist gelten. Die fünfte Gewalt in Gestalt einer Schwarmintelligenz im Netz soll seine Botschaft annehmen und verbreiten.
Dieses Vorhaben gelingt Snowden mühelos. Als Mitglied im „Board of Directors“ der Freedom of the Press Foundation ist er im Herzen des investigativen US-Journalismus angekommen. Die globale Crowd glorifiziert ihn und feiert ihn als Helden.

Edward Snowdens Vorgeschichte
Snowdens Lebensgeschichte ist zu wenig facettenreich, um mich zu überzeugen. Eine Biografie, die sich liest, als sei sie out-of-the-box von einem Drehbuchautor für den Charakter eines Whistleblowers ausgedacht worden.
Bevor er für die NSA tätig wurde, war Edward Snowden Mitarbeiter des CIA. Man erfährt durch ihn von Methoden der psychoanalytisch fundierten Zersetzung vom schweizer Bankgeheimnis. Ein Banker wird durch geheuchelte Freundschaft ausgetrickst.
Später lebt Snowden als Angestellter von einem Subunternehmen der NSA in Hawaii. Als gut bezahlter Systemadministrator hat er Zugriff auf sämtliche geheimen Daten. Ihn packt ein Gefühl von richtig und falsch. Er will seine Mitbürger vor den Geheimdiensten der sogenannten Five Eyes warnen und kopiert klassifizierte Datensätze. Mit ein paar Speicherkarten fliegt er nach Hongkong. Seine Flucht ist eine Einbahnstraße nach Russland. Als er Moskau erreicht hat, wird sein US-Reisedokument gesperrt. Er bleibt am Flughafen stecken, wird in einer Zelle befragt und bekommt schon nach vier Wochen russisches Asyl.
In den USA lässt Edward Snowden seine Lebensgefährtin zurück. Wir lernen sie als die bloggende Stangentänzerin Lindsay Mills kennen.

Boxgeborene Venus: Edward Snowdens langjährige Gefährtin Lindsay Mills steigt aus einem Karton. Quelle: minhafxh g auf Youtube
In unserer offenen Runde bei der transmediale schlage ich einen Vergleich von Edward Snowdens Kurzbiografie mit dem Leben von Julian Assange vor.
Julian Assange kann man sich nicht ausdenken
Assanges Biografie schaut aus wie ein gordischer Knoten. Früh tut er sich als brillianter Hacker hervor. Freundschaften, Streit, Narzissmen, Sex begleiteten seine Reisen. Er schläft innerhalb von einem kurzen Zeitraum ohne Kondom mit zwei Schwedinnen, die ihn zu einem Test auf Geschlechtskrankheiten zwingen möchten. Die schwedische Polizei ermittelt gegen ihn wegen sexueller Nötigung und wünscht ein Verhör mit dem Sextäter.
Zum Schutz vor Auslieferung von Großbritannien nach Schweden wegen ungeschütztem Geschlechtsverkehr flieht Assange in die Botschaft von Ecuador. Er glaubt, Schweden möchte ihn verhaften und an die USA ausliefern. Ein Mensch mit kindlichen Eitelkeiten und irrationalen Fehlern erschließt sich uns, verantwortungslos, hochintelligent und vielleicht auch im Zustand einer paranoiden Verstrickung gefangen. Durch das angstbehaftete Setting von Verfolgung durch totalitäre Regimes ist die Grenze zwischen Wahnsinn und Scharfsinn unscharf. Assange verheddert sich in seinen eigenen Freiheitskampf und lebt seit Jahren in selbst auferlegter Gefangenschaft, deren Aufhebung in eine de facto Gefangenschaft übergehen könnte.

Julian Assange in der Botschaft von Ecuador, 20. August 2014 Quelle: Wikimedia Commons
Assanges Geschichte wirkt in ihrer Absurdität lebendig. Sie könnte in ihren Überraschungen nicht von einem Drehbuchautor geschrieben werden, dazu ist sie zu bunt. Seine Entwicklung folgt keinen dramaturgischen Regeln.
Auch der Weg der Datensätze von Wikileaks ist gewunden und voller gordischer Knoten, die Bradley – nunmehr Chelsea Manning geleaked hat. Wikileaks Entwicklung ist achterbahnartig: obskure Datenbotschafter, gesperrte Server, manipulierte Depechen, unterbrochene Bankverbindungen … Den arabischen Frühling hat die Veröffentlichung der geheimen US-Depechen ausgelöst, glaubt man bei Wikileaks. Welcher Drehbuchautor hätte sich für einen Whistleblower eine Geschlechtsumwandlung ausgedacht?

Julian Assange in der Botschaft von Ecuador. Er bucht Flugtickets für Edward Snowden und inszeniert diplomatische Verwirrspiele. Quelle: Minute 86, CITIZENFOUR
Julian Assage bekommt einen Auftritt in CITIZENFOUR. Auf seinem Laptop in der Botschaft von Ecuador in London bucht Assange dutzende Flüge für Snowdens Flucht. Dank dessen Intervention und der Hilfe durch Wikileaks bekommt Edward Snowden praktische Tipps und Hands-On Unterstützung für seinen geglückten Trip nach Moskau. Verwirrspiele mit Diplomaten und Flugzeugen bieten Snowden Schutz vor einer Auslieferung in die USA und decken das Verschwörungsnetzwerk der USA in Europa auf.
Mein Name ist Snowden.
Edward Joseph Snowden.
Edward Snowden taucht aus dem Nichts auf. Als Unbekannter in der Landschaft der kritischen Medien fliegt er mit ein paar Speicherkarten voll heimlich kopierter Daten nach Hongkong. Journalist Glenn Greenwald bringt als etablierter Kritiker die Botschaft von Snowden ohne weiteren Umweg an die Öffentlichkeit. Eine Autobahn für eine Allmachtsbehauptung wird in Windeseile errichtet. Diese Daten suchen die kürzeste Verbindung von endo nach exo.
Die Glaubwürdigkeit von Snowdens Geschichte erscheint mir brüchig, sie erinnert mich an einen James Bond Film mit vorhersehbarer Dramaturgie. Obgleich Snoden längst enthüllt ist, lässt Hongkong ihn mit seinem US-Pass ausreisen. Der chinesische Geheimdienst hat nicht nach einem Edward Joseph Snowden gesucht, sondern einem Edward James Snowden. Leise höre ich in meiner Imagination eine Melodie.

„It’s called TEMPORA“. Edward Snowden berichtet von der Macht des britischen Geheimdienstes und erinnert mich dabei an einen Schuljungen, der heimlich hofft, sein Lehrer möge ihm eine Schwindelei glauben. Quelle: CITIZENFOUR
Wundere ich mich, als die James Bond Produzenten Michael G. Wilson und Barbara Broccoli den Plan für eine Verfilmung von Glenn Greenwalds Buch „No Place to Hide“ über Edward Snowden veröffentlichen? Hier kommt zusammen, was zusammen gehört.
Lachten wir nicht, als uns Snowdens Darstellung des „geheimen Werkzeugkasten der NSA“ an die Werkstatt von „Q“ erinnerte?
Edward Snowdens Lebensgefährtin wird uns als Lindsay Mills vorgestellt. Wie wäre Mills als Bondgirl? Adventures of a world-traveling, pole-dancing super hero titelte ihr Blog, der nun mittlerweile offline ist. Die an Kameras gewöhnte Tänzerin ging nach Russland ins Exil, um mit ihrem „Mystery Man“, wie sie Edward Snowden bezeichnet, zusammenleben zu können.

Laura Poitras stalked Edward Snowden und Lindsay Mills mit der Kamera. Durchs Fenster ihrer Küche im russischen Exil sehen wir sie geschwisterlich Spaghetti kochen. Quelle: CITIZENFOUR
Minute 105, CITIZENFOUR: Laura Poitras macht die ZuschauerInnen ihres Films zu Stalkern. Sie zeigt uns einen romantischen Blick durchs Fenster von Edward Snowden und seiner Lebensgefährtin Lindsay Mills im russischen Exil. Wir blicken in eine holzgetäfelte Küche, auf dem Herd dampft es aus einem großen Topf. Snowden und Mills sehen nicht wie ein verliebtes Liebespaar aus. Sie berühren sich nicht. Als Mills zur Anrichte geht, weicht ihr Snowden körperlich aus. Sie leben nebeneinander wie Geschwister.
Geschwister? Mills Gesicht ist die weibliche Übersetzung von Edward Snowdens Physiognomie: Ihre Haut, die Haarfarbe, das Gesicht! Die gleiche Form der Nase, das gleiche markante Kinn. Inzest oder Inszenierung?
Die Beziehung von Snwoden und Mills wurde von einer amüsierten Netzgmeinde zerpflückt und von zahlreichen Medien neugierig unter die Lupe genommen. Die digitale Montage von Mills und Snowden badend im Naturteich vor Wasserfall hat netzweit Gelächter ausgelöst.
CNN enthüllt
Minute 47, CITIZENFOUR: Warum erzählt Edward Snowden vor der laufenden Kamera von Laura Poitras, die NSA Polizei wolle in sein Haus einbrechen? Wieso behauptet er, seine Partnerin wisse nichts von seiner Flucht und sei daheim?
Lindsay Mills solle „voll kooperieren“ mit den internen Sicherheitskräften der NSA. Dabei ist sie doch laut CNN schon von der Bildfläche verschwunden, lange bevor Snowden seine Identität veröffentlicht hat? Warum beichtet Snowden, sein Vermieter wolle ihm kündigen, nachdem überraschenderweise keine Miete mehr vom Snowdens Konto abgebucht werden kann? Laut CNN ist er schon Wochen vor seinem Abflug nach Hongkong aus seinem Haus ausgezogen?
CNN berichtet, Lindsay Mills habe auf sich auf das amerikanische Festland abgesetzt. Wie kann diese inhaltliche und zeitliche Diskrepanz zwischen den Worten von Snowden und den Recherchen vor Ort erklärt werden?

Edward Snowden: Als er Laura Poitras von der E-Mail Konversation mit Lindsay Mills erzählt, schiebt sich seine Unterlippe nach oben, als wolle ihm sein Gewissen den Mund zuhalten. Quelle: CITIZENFOUR
Edward Snowden als Pseudonym
Haben wir uns nicht schon nach Snowdens unerwartetem Auftauchen über seinen seltsam britisch-filmischen Namen gewundert? Falls er ein Pseodonym tragen sollte – was würde es bedeuten?
Sie kennen doch sicher den John Le Carré Roman Der Spion der aus der Kälte kam?
Wenn ich den Namen „Snowden“ als Spielart von einem Geonym interpretiere, dann kann ich eine Verbindung ziehen zwischen diesem Buchtitel und Schnee.
Der Spion der aus dem Schnee kam.
Schnee hat insbesondere in der englischen Sprache eine weitere gängige Bedeutung: Snow ist gleichbedeutend mit White Noise – weißes Rauschen.
Der Spion, der aus dem Datenrauschen kam.
Lindsay Mills nennt ihren Liebsten „E“.
Verkörperte Edward Fox doch in „Sag niemals nie“ den geheimnisvollen „M“, Leiter des Secret Intelligent Service.
Sag niemals nichts
Wäre Edward Snowden kein Whistleblower, sondern vielmehr der Überträger eines viralen Vektors für unsere Fantasie, der sein Material in die Zielzelle Greenwald schleust – welche Art von Kritik wäre die Infektion des Überzeugungsnetzwerkes von Glenn Greenwald?
Wenn Glenn Greenwald die investigative Kritik am US-Regime verkörpert und seine Ideen über den Kampf um die Pressefreiheit durch die neuen Informationen von Snowden bestätigt werden, wäre die Kritik Snowdens an den Aktivitäten der NSA ebenfalls Kritik auf Augenhöhe von Greenwald. Würde es sich dabei um die Durchsetzung von Greenwalds Imagination mit paranoiden Gedanken handeln – wäre Snowdens Kritik dann Parakritik?

„Jetzt kann uns nichts mehr schockieren“ lacht Greenwald. Sein Bewusstsein ist angereichert von der Idee der permanenten Überwachung. Quelle: CITIZENFOUR
Glenn Greenwald und Laura Poitras werden von Edward Snowden in einen Strudel von Verfolgungsmechanismen gesaugt. Als sich Snowden unter einem roten Mantel verbirgt, um die Bewegung seiner Finger auf seiner Tastatur vor möglicher „visual collection“ zu verstecken, muss Greenwald lachen.
I don’t think that there is anything at this point in this regard, that will shock us (lacht). We’ve come so far, it’s like … if someone said „I am never leaving anything in my room again, not a single machine“, I’d say „you’ve been infected by the paranoia park“ (lacht laut).
And the point is, I would never leave a single device again alone in my room …
Soll Greenwalds investigative Kritik durch die Durchdringung einer Endo-Fiktion, die von der NSA entwickelt wurde, zur Stärkung der herrschenden Macht benutzt werden? Sie wird durch Snowden nicht nur bestätigt, sondern potenziert. Die Kritik als Boot für angebliche Endo-Kritik, die unerkannt eine zerstörerische Parakritik transportiert, um das kritische Denken der Bevölkerung, um CITIZEN FOUR letztendlich zu unterdrücken … klingt das plausibel?
Paranoia versus Anti-Paranoia

Edward Snowden verbirgt sich unter einem „magic mantle of power“. Er möchte verhindern, dass man seine Tastatur-Bewegungen visuell auslesen kann. Quelle: CITIZENFOUR
Welcher Art ist meine Kritik an Edward Snowdens Geschichte? Mich erreichen seine Botschaften durch die Medien. Snowdens gegebenenfalls fiktive Endo-Kritik, eine Endo-Fiktion der NSA, wurde über Glenn Greenwald in dessen Medien-Welt getragen, die diese Botschaft umso bereitwilliger unterstützt, je paranoider ihr Umfeld ist. CNN überbot sich selbst mit der Aufklärung des NSA-Skandals. Die Geschichte der alles überwachenden Behörde National Security Agency ging in kürzester Zeit medial viral.
Das zu kritisierende System geht über in unser europäisches Überzeugungsnetzwerk, das ein Archiv-Medium wie die NSA für seine möglichen Aktivitäten gegen US-Recht kritisieren soll. Ich als Medienprofi, die in einem evolutionären medialen Informationsnetzwerk aufgewachsen ist, kritisiere nun wiederum diese Botschaft medial. Ich bin durch meine Mitmenschen, deren Bewusstsein diese Botschaft erreicht hat, Teil eines „set of beliefs“ und kritisiere systemimmanent („endo“) einen Teil von diesem Set.
Ich halte für wahrscheinlich, dass Edward Snowden ein fiktiver Charakter ist, der in die Öffentlichkeit geschickt wurde, um eine paranoide Botschaft zu verbreiten. Ich stelle mich gegen die allgemein akzeptierte Endo-Kritik Snowdens, die ich für eine Endo-Fiktion halte. Ist meine Endo-Kritik nun eine … ich komme durcheinander.
In unserer offenen Runde über Medien-Kritik beim transmediale Festival wirft einer der Teilnehmer der Diskussion einen Einwand ein.
Das ist paranoid, nicht wahr?
Ich gebe ihm Recht. Anti-Paranoia ist mit Paranoia untrennbar verbunden. Ebenso, wie deklarierte Anti-Kunst immer auch Kunst ist, ist meine Anti-Paranoia in Bezug auf Edward Snowdens paranoide Botschaft im Kern paranoid.
Paranoia ist Endo-Kritik, da sie nicht aus ihrem eigenen System austreten kann.
Eine sehr interssante Theorie. Ist Endo-Kritik in ihrem Wesen schon paranoid? Im Publikum fallen weitere Begriffe wie „Virus“, „Initmität“ und „Wissen“. Um Endo-Kritik üben zu können, muss man die Systemvorgaben des rationalen Containers sehr genau kennen.
Die Bedeutung von Paranoia

Edward Snowden zeigt seinem Publikum eine alles erklärende Folie zur Funktionsweise der „Five Eyes“ Spionagesoftware XKeyscore | Quelle: CITIZENFOUR
Auch Paranoia stammt aus dem Griechischen. Der Begriff ist zusammengesetzt aus „para“ (gegen) und „nous“ (Verstand). Paranoia wäre eine „Überzeugung gegen den Verstand“ und somit gleichzusetzen mit Wahnsinn. Nun kann man mit seinem Verstand erkennen, dass Paranoia in unseren Überzeugungen allgegenwärtig ist.
Denken Sie an Gott! Die Überzeugung, ein allwissender liebender – oder strafender – Übervater würde jeden unserer Atemzüge beobachten, jeden Gedanken lesen können und uns für unsere Taten nach dem Tod entweder belohnen oder bestrafen, ist zutiefst paranoid. Dennoch glauben Milliarden von Menschen an diese Totalüberwachung. Warum sollte man in dieses Wissen gegen den Verstand nicht weitere Botschaften einschleusen können, die genau diese Überzeugung bedienen?
„Gesunder Menschenverstand“ kann überaus irrational sein und kann durch Überzeugungen wider den Verstand aufs Glatteis geführt werden. Befindet man sich im kulturellen Netzwerk der geozentrischen Idee, erscheint die Botschaft paranoid, dass sich die Erde um die Sonne dreht.

CNN berichtet, dass Daten von Microsoft, Apple, Skype, Youtube, Google, AOL, Facebook und Yahoo von der NSA überwacht werden. Sowohl Audio, Video, Fotografien, E-Mails, Dokumente als auch Verbindungsdaten. Quelle: CITIZENFOUR
Investigative Methoden zur Untersuchung von Poitras investigativem Dokumentarfilm
Kann ich mein dramaturgisches Verständnis von Wirklichkeit versus Fiktion, das durch Jahrzehnte intensiver medialer Interaktion geschult ist, mit meiner Theorie, Edward Snowden könne ein Schlepper von paranoiden Botschaften sein, durch analytische Recherche investigativ überprüfen?
Kann ich diese These somit aus dem Zustand der Paranoia „wider den Verstand“ in den Zustand der kritischen Medientheorie versetzen? Kann ich die Verifizierung dieser Idee durch empirische Beobachtung erreichen? Und selbst wenn … wer würde mir jetzt noch glauben? Das US-zentrische Weltbild, das durch Laura Poitras investigativen Journalismus überzeugend transportiert wird, hat sich längst als wahr durchgesetzt.
CITIZENFOUR als Paranoia Antidot
Ich reagiere auf den investigativen Dokumentarfilm CITIZENFOUR investigativ. Falls Edward Snowden das Wissensnetzwerk unserer Welt durch Glenn Greenwald mit einer künstlich erzeugten Labornachricht infiziert, kann man dies möglicherweise im Material von Laura Poitras erkennen.
Laura Poitras zitiert in CITIZENFOUR Edward Snowdens E-Mail, das sie dazu motiviert, gemeinsam mit Greenwald nach Hongkong zu fliegen. Decodiert sie versteckte Botschaften zwischen den Zeilen?

Edward Snowdens E-Mails an Laura Poitras sind in vielfacher Hinsicht verschlüsselt. Der PGP Key allein reicht nicht, um seine Inhalte verstehen zu können. Quelle: CITIZENFOUR
Edward Snowden schickt Laura Poitras klare Anweisungen.
The material provided and the investigative efford required will be too much for anyone person. I recommend, at a very minimum, you involve Glenn Greenwald.
I believe, you know him.
Laura Poitras ist überzeugt von der Glaubwürdigkeit der Quelle CITIZENFOUR, als dieser ihr Kopien aus ihrer Polizeiakte von einer Durchsuchung an einem US-Flughafen zukommen lässt. Von nun an hat er leichtes Spiel.
Noone, not even my most trusted confidents, is aware of my intentions and it would not be fair for them to fall under suspicion for my actions.
You may be the only one, to prevent that.
Laura Poitras schluckt den Köder, der Spuren von Julian Assange und Chelsea Manning enthält.
Die Dosis macht das Gift
Edward Snowden hatte unter dem Decknamen „CITIZENFOUR“ ursprünglich erfolglos versucht, Kontakt zu Glenn Greenwald aufzubauen. Laura Poitras ist seine zweite Wahl. Sie versucht, die Glaubwürdigkeit der verschlüsselten E-Mails von CITIZENFOUR über einen Zeitraum von mehreren Wochen einzuschätzen.
In ihrer Logik, die sie über traumatisierende Erfahrungen aufgrund polizeilicher Kontrolle wegen ihrer regimekritischen Filme entwickelt hat, ist seine Authentizität umso größer, je größer die Gefahr ist, in der er sich befindet. In der schwarzen Terminal-Welt, die aus weißem ASCII-Code und geheimen Datenschlüsseln gebildet wird, schmelzen Poitras Zweifel. Sie überzeugt Greenwald von einem gemeinsamen Flug nach Hongkong, um CITIZENFOUR zu treffen.
Außerhalb ihrer Sicherheitszone, im chinesischen Adrenalinrausch, werden Greenwald und Poitras mit einer virulenten Situation durch Snowden konfrontiert. Sie setzen sich in seinem Hotelzimmer infektiöser Paranoia aus, die sich in einer gegenseitigen Feedbackschleife verstärkt.

Als investigative Endo-Kritikerin befinde ich mich weit außerhalb vom analogen Angst-Brutkasten Snowden/Poitras/Greenwald. Ich habe eine viel geringere Überwachungs-Angst-Dosis abbekommen, fühle mich sicher in meinem warmen Zuhause. Die Geschichten aus Snowdens Wirklichkeit sehe ich mir auf meinem Laptop an. Ich habe keine künstlerischen oder missionarischen Ambitionen in Bezug auf einen Geheimdienst-Skandal. Kritische Distanz zu den Dargestellten und den Inhalten des Films ist gegeben, um logische Fehler in Inszenierungen endo-kritisch erkennen zu können.
Was verrät uns Snowden? Wie kann man durch einen Perspektivenwechsel beim Erleben der Handlung kritische Fragestellungen finden? Ich nehme die Herausforderung an und suche gezielt nach Anzeichen von Brüchen oder Unstimmigkeiten in Edward Snowdens Auftritt.
Woran man Unstimmigkeiten in Sprache und Mimik erkennen kann
Niemand nimmt mich ernst, wenn ich im einfach Brustton der Überzeugung behaupte:
Ich spüre, dass Edward Snowden eine Rolle spielt.
Investigativer Endo-Journalismus erfordert Recherche. Geht es darum, meine These glaubwürdig darzustellen, brauche ich für meine Mitmenschen Beweise, Wissenschaft, Expertise. Ich sammle Hinweise von Profis, wie man gespieltes Verhalten wider besseres Wissen erkennen kann, und vergleiche sie mit dem Verhalten von Edward Snowden.

Glenn Greenwald: „Let’s talk about the issue with what we’re gonna say about who you are.“ – Edward Snowden verzieht sein Gesicht einer zwinkernden Grimasse. Quelle: CITIZENFOUR, Min. 61
Authentisches Verhalten | Edward Snowden |
---|---|
spontane Antwort | einstudierte, überlegte Antwort |
sprunghafte Formulierung | chronologische Formulierung |
flüssige Mimik | hölzerne Posen |
beantwortet Fragen | beantwortet Fragen nicht (Umschreibungen) |
wenige Gegenfragen | selbst wenn Fragen unmissverständlich sind: wiederholt die Frage oder bittet um Wiederholung; stellt Gegenfragen |
symmetrische Mimik | asymmetrische Mimik |
entspannter Blick | Augenzwinkern, Augenreiben |
der Mund bleibt frei | der Mund wird zugehalten oder die Lippe geschürzt |
selbstsichere Antwort | unterstützt die Glaubwürdigkeit einer Behauptung mit anderen Behauptungen |
der Erzählgehalt bleibt ausgewogen | der Erzählgehalt ist in der Vorgeschichte wortreich und nimmt immer stärker ab |
unveränderte Emotionslage nach der Antwort | Erleichterung nach der Antwort |
wenig förmlich | förmlich, stilisiert |
personalisierte Sprache („ich“) | entpersonalisierte Sprache („man“) |
entspannte Stirn vor einer Antwort | Stirnrunzeln vor einer Antwort (erhöhte Konzentration) |
beantwortet Fragen, mit der Konversation einhergehend, innerhalb einer halben Sekunde | verfrühte – oder verspätete Antworten |
ansteigende Geschwindigkeit und Lautstärke | abnehmende Tonlage, Geschwindigkeit und Lautstärke |
keine Aussetzer / Lücken | Aussetzer / Lücken |
normale Stimmhöhe | höhere Stimme |
Augenkontakt | blickt unstetig umher, bspw. von rechts (Erinnerung) nach links (Fantasie) |
gleichmäßiges Blinzeln | unregelmäßiges Blinzeln (nach der Antwort stärker) |
Wenn Menschen lügen, so zeigen sie meist für wenige Sekundenbruchteile unverfälschte Emotionen. Selbst dann, wenn Laura Poitras und Glenn Greenwald während der persönlichen Kommunikation Unstimmigkeiten im Sprachfluss nicht bemerken konnten, kann man mithilfe der Aufzeichnungen Micro-Expressionen finden, indem man Frame für Frame durch das Filmmaterial geht. Finden sich emotionale Brüche in der Mimik oder der Sprache von Edward Snowden?

Glenn Greenwald plant das Coming-Out des Whistleblowers Edward Snowden. CITIZENFOUR hält sich beim Zuhören den Mund zu. Quelle: CITIZENFOUR, Minute 65:29
Ewen McAskill, Reporter vom Guardian (UK) stellt Fragen an Edward Snowden
Edward Snowden erzählt.
There is an infrastructure in place, in the United States and worldwide, that NSA has built in cooperation with other governments as well that intercepts basically every digital communication, every radio communication, every analogue communication that it has sensors in place to detect.
And with these capabilities basically the vast majority of human and computer to computer communications, device based communications which sort of inform the relationships between humans are automatically ingested without targeting.
And that allows individuals to retroactively search your communications.

Die ganze Welt wird überwacht. Jede Datenverbindung, jede Funkverbindung, jedes gesprochene Wort wird von der NSA aufgezeichnet, erzählt Edward Snowden. Quelle: CITIZENFOUR
Diese Behauptung ist von einer überwältigenden Dimension. Selbst zum aktuellen Zeitpunkt klingt sie unwahrscheinlich. Nicht einmal die weltweit agierenden Algorithmus-Schmieden Google und Facebook, die gewinnorientiert und werbefinanziert sind, haben bisher derartige Möglichkeiten entwickelt. Noch nicht.
Wer sich mit Suchmaschinenoptimierung und Social Media Marketing auskennt, weiß, wie fehlerhaft derzeit noch das Targeting von Werbekunden funktioniert, wie unvollkommen Google Suchanfragen semantisch präzisieren kann, wie schwer es ist, das Profiling von UserInnen durch Suchanfragen vorzunehmen. Google beispielsweise hält mich aufgrund meiner Suchanfragen für einen Mann zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren.
Google wird immer besser mit seinen Algorithmen, doch derzeit ist nicht einmal diese globale Suchmaschine in der Lage, auch nur ansatzweise zu erfüllen, wovon Snowden schwärmt. Die Aufnahmen von Laura Poitras sind zwei Jahre alt. Damals war die Wahrscheinlichkeit noch geringer als heute, Snowdens Darstellungen könnten in der Gegenwart bereits eingetreten sein.

Wie soll eine von Steuergeldern finanzierte Behörde in der Lage sein, die Möglichkeiten von jüngeren Milliardenunternehmen so weit zu überragen? Woher sollen die personellen Kapazitäten kommen, um die Kommunikation von so vielen Menschen so zu archivieren und zu analysieren, dass die Datenmengen verständlich werden?
Die Universitäten dieser Welt haben diesen enormen Aufwand von Humankapital für so eine Aufgabe noch gar nicht produziert. Big Data steckt in den Kinderschuhen. Talente werden von der IT-Wirtschaft aufgesaugt. Wer sollte in so einer Situation staatliche Massenüberwachung der Weltbevölkerung für die USA realisieren?
Vielleicht wird dies in einigen Jahren tatsächlich möglich sein, falls die betroffenen Gesellschaften es zulassen, woran ich aufgrund aktueller politischer Entwicklungen keinen Zweifel mehr habe. Doch halte ich für illusorisch, dass eine US-Behörde mit derart umfassenden Fähigkeiten jetzt schon existiert.
Edward Snowden kennt seinen Namen nicht
Ewen McAskill nimmt Snowdens Reaktionen unter die Lupe.
So, I don’t know your name …

„I don’t know your name.“ Sorry, I ääh … Edward Snowden erinnert sich einen Moment lang nicht mehr, wie er heißt. Quelle: CITIZENFOUR
Der Name ist der öffentliche Schlüssel zur eigenen Persönlichkeit, der ein Menschenleben von Geburt an begleitet. Wie heißen Sie? Snowden beginnt zu lachen.
Sorry, I, ääh
Snowden muss Zeit gewinnen, um eine Antwort auf diese einfachste aller Fragen zu finden. Er wiederholt die Frage des Reporters mit „my name is“, sieht dem McAskill kurz ins Gesicht, erinnert sich an „Edward Snowden“, wendet seinen Blick ab, als müsse er noch einmal genau darüber nachdenken, wie sein voller Name lautet.
Edward Joseph Snowden is my full name
Endlich fällt ihm ein, wie er heißt. Mit verborgenem Blick antwortet leise wie in seiner Erinnerung umhersuchend. Als er seinen Namen buchstabiert, spricht Snwoden stark überbetont.
Hinweise in Snowdens Mimik auf eine Inszenierung
In allen Gesprächspassagen von Whistleblower CITIZENFOUR mit Glenn Greenwald finden sich körperliche Anzeichen von Stress vor oder während einer Antwort. Geht es hier um ein Casting? Sobald der Gesprächspartner die Antwort wohlwollend aufgenommen hat, zeigt Snowden Erleichterung. War ich gut? Werde ich jetzt engagiert?
Die Mimik Snowdens ist stark überbetont. Hat er Sprachtraining genommen? Wurde ihm im Rahmen von Schauspielunterricht beigebracht, den Mund weit zu öffnen beim Sprechen, um überzeugender auftreten zu können? Es ist vielleicht ein bisschen viel des Guten … Edward Snowden ist nicht im Theater. Oder doch?

Edward Snowden singt Glenn Greenwald das Lied der korrupten Geheimdienste. Glenn Greenwald gefällt das. Quelle: CITIZENFOUR
Die Intonation in Edward Snowdens Worten schwankt: Wenn er in Dimensionen ausufert, die unwahrscheinlich erscheinen, ändert sich auch seine Aussprache. Sie wirkt dann besonders exaltiert, überartikuliert, als wolle er sich hinter seiner eigenen Stimme verstecken. Er schlüpft in eine Rolle. Will er wissentlich unwahre Botschaften ohne Unterbrechung flüssig ins Bewusstsein von Poitras und Greenwald spielen?
Immer wieder erkennt man diese stockende, blasierte Sprache mit mechanisch vorgetragenen Inhalten, als suche Snowden nach auswendig gelernten Passagen und wolle sich in eine Rolle versetzen, die ihm die nötige Legitimation gibt, seine Texte als Wahrheit zu vermitteln.
Warum Edward Snowden lügen sollte
Schon mehrmals habe ich meine Beobachtungen gegenüber Bekannten geäußert. Mir begegnet meist Erstaunen.
Aber warum sollten sich die USA selbst schaden wollen? Obama hat selbst zugegeben, dass die Überwachung existiert!
Ich halte diese Enthüllungen nicht schädlich für die USA. Wenn Patriot Snowden seinem Land wirklich hätte schaden wollen, er, der Systemadministrator, der doch zu allen Daten uneingeschränkt Zugang hatte, hätte er die Server der NSA abgeschaltet oder mit seinen Viren infiziert. Nicht die Köpfe von Journalisten.

Barack Obama ist enttäuscht. Edward Snowdwn hätte vertrauensvoll direkt zu ihm kommen sollen mit seinen Leaks, wünscht er sich öffentlich. Quelle: CITIZENFOUR
Sobald die ganze Welt glaubt, die USA seien bereits jetzt schon in der Lage, sämtliche Kommunikation „digital, über Funk oder analog“ mitzuschneiden und nach Belieben rückwirkend in die Vergangenheit oder sogar vorausschauend in die Zukunft auszuwerten, wäre das eine gottgleiche Vorstellung. „Gott sieht alles“ wäre gleichbedeutend wie „die NSA sieht alles“. Die Auswirkung auf das Kommunikationsverhalten der Menschen in westlichen Ländern könnten desaströs sein. Oder sollte ich lieber „sind desaströs“ schreiben?
Verleugnung ist nicht unverdächtig
Beschuldigungen aus der Welt schaffen zu wollen, indem man sie ableugnet, verstärkt die Anschuldigung. Je nachdrücklicher man sie leugnet, desto mehr Wichtigkeit verleiht man dem Verdacht. Heutzutage leugnet man Vorwürfe, um unverdächtig Botschaften in die Welt zu setzen.

In unserem Beispiel CITIZENFOUR wird hochoffiziell abgestritten, dass absichtliche Massenüberwachung der US-Bevölkerung existiert. Der Whistleblower Edward Snowden kommt auf die Bühne. Er beweist das Gegenteil: Überwachung der ganzen Welt findet statt. Präsident Barack Obama persönlich räumt ein, dass da etwas dran sein könnte. Er ist nur enttäuscht, dass Edward Snowden es war, der die Geschichte aufgerollt hat, nachdem doch Obama als Präsident schon Untersuchungen angeordnet hat. Wer zweifelt jetzt noch am Wahrheitsgehalt der Geschichte über Totalüberwachung?
Angst ist unsexy
Bei der Berlinale lerne ich einen netten Mann im Kino kennen. Wir sprechen über den Film, den wir gesehen haben. Er ist hübsch. Er schreibt mir seine E-Mail Adresse auf mit den Worten „pass gut darauf auf“. Ich finde das süß. Denke schon, er meint damit, ich solle den Zettel nicht verlieren, auf den er die Adresse geschrieben hat. Er mag mich, freue ich mich.
Was er wirklich sagen will und etwas später deutlich macht:
Pass auf, dass die Adresse nicht auf einer Terrorliste landet!
Der Mann hatte ernsthaft Sorge, ich könnte seine E-Mail Adresse in einen Diskurs über Regimekritik und Terror bringen. Seine Bedenken, durch die E-Mail Kommunikation mit einer Frau wie mir könne er auf einer US-Terrorliste landen, weil ich mit ihm über den gemeinsam gesehenen Berlinale-Film online diskutieren könnte, fand ich unsäglich unsexy.
Ich habe mich nicht bei ihm gemeldet.
Von Gottes Gnaden

Eine von Bürgerinnen und Bürgern selbst auferlegte Limitierung der Meinungsfreiheit resultiert aus der Idee, von unkontrollierbaren Mächten überwacht zu werden. Selbstzensur erwächst aus der Vorstellung eines strafenden allmächtigen Gottes. Die Idee, dass sündhaftes Vergehen schon als Gedanke erkannt, für immer gespeichert und nach dem Tod mit Höllenqualen bestraft wird, arbeitet nach dem gleichen Wirkprinzip wie Angst vor staatlicher Überwachung.
Hätte Edward Snowden zusätzlich noch behauptet, die NSA könne die Gehirnströme aller Menschen dieser Erde messen, hätte er damit nicht nur kritische Kommunikation stören bis unterbinden können, sondern sogar noch grimmige Gedanken blockiert.
Lediglich die schiere technologische Plausibilität einer zukünftigen Totalüberwachung durch Datenspeicherung lässt Snowdens Worte möglich erscheinen.
Doch, das kann schon so funktionieren
erzählen mir Programmierer und Hacker. Warum also sollte man einen Lügner in ein kritisches Wissensnetzwerk einschleusen, wenn es doch rein theoretisch möglich wäre, so eine Totalüberwachung bereits jetzt schon zu realisieren?
Die Antworten darauf sind ebenso einfach wie plausibel.
1)
Weil es derzeit einfach noch niemand in dem behaupteten Ausmaß kann.
2)
Was nutzt Überwachung, wenn niemand davon weiß? Wer soll Angst vor Strafe haben, so lange man sich unbeobachtet fühlt?
Edward Snowden verstärkt die Staatsmacht
Minute 23, CITIZENFOUR: Als Edward Snowden von Glenn Greenwald gefragt wird, warum er denn diese Daten überbringt, antwortet er sehr ehrlich.
It all comes down to state power against the peoples ability to meaningfully oppose that power. And I am sitting there every day getting paied to design methods to amplify that state power.

Edward Snowden: „I am sitting there every day to design methods to amplify that state power.“ Bei den Worten „Sitting there“, in einem Hotelstuhl Greenwald gegenüber sitzend, kann er amüsiertes Lachen nicht mehr unterdrücken. Quelle: CITIZENFOUR
Warum spricht Snowden nicht in der Vergangenheit? Snowden weiß, dies spricht er auch offen aus, dass er nicht in die USA zurückkehren kann.
„Methoden designen“ kann heißen, dass man Gedankenviren entwickelt zur Durchsetzung der medialen Opposition mit zerstörerischen Ideen.
Als Snowden lacht bei den Worten „And I am sitting there“, lese ich aus seiner Reaktion, dass er damit die Situation mit Greenwald und Poitras in diesem Hotel meint und die Absurdität der Situation sehr lustig findet.
CITIZENFOUR streut Hoffnungslosigkeit
And I am realizing, that if, you know, the policies, which is, that are the only things that restrain these states, were changed, you could not meaningfully oppose these. You would have to be the most incredibly sopisticated tag collector in existance, I am not sure there is anybody, no matter how gifted you are, who could oppose all of the offices and all the bright people. Even all mediocre people out there with all of their tools and all of their capabilities.

Edward Snowden: „No matter how gifted you are …“ Wen meint Snowden damit? Sein Blick sucht in seiner Erinnerung nach Worten, als habe er den Text auswendig gelernt. Quelle: CITIZENFOUR
Warum nimmt Snowden die Unmöglichkeit einer Opposition gegen die NSA vorweg? Eine unüberwindbare Hilflosigkeit wird so erzeugt. Lasst alle Hoffnung fahren. Denn er erklärt uns auch das Prinzip der Geheimdienste: Sie unterstehen nicht den Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler. Die Drahtzieher bleiben jahrzehntelang unbeeinflusst von der Demokratie in ihren Positionen. Jeder neue Präsident wird sofort unter Druck gesetzt. Wie idealistisch ein junger Präsident auch gewesen sein mag zu Beginn seiner Amtszeit, er wird mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in die Entscheidungen der Geheimdienste eingebunden. Nach acht Jahren spätestens ist er wieder weg und das Spiel beginnt neu. Wer sollte die NSA also kontrollieren oder abschaffen, wenn es doch die NSA ist, die den Präsidenten kontrolliert? Snowdens Schilderung vom US-Rechtsstaat ist so demotivierend, dass ich langsam verstehe, weshalb die US-Bürgerinnen und Bürger so unfassbar wahlfaul sind.
CITIZENFOUR schwimmt mit dem Strom
Snowdens Botschaft fällt nicht nur bei Greenwald und Poitras auf fruchtbaren Boden. Er bestätigt die Sorge zahlreicher kritisch denkender Köpfe, Überwachung sei nicht nur möglich, sondern auch denkbar.
People self-police their own views. They literally make jokes about ending up on „the list“ if they donate to a political cause or if they say something in a discussion. It has become an expectation, that we are being watched.

Edward Snowden: „People self-police their own views.“ Worum geht es ihm hier eigentlich? Sein Blick schweift herum, er scheint emotional nicht involviert. Quelle: CITIZENFOUR
Besteht Edward Snowdens selbst auferlegte Mission etwa gar nicht darin, Zweifel und Ängste der Bevölkerung zu bestätigen, um Opposition zu wecken – sondern vielmehr, sie durch eine sich selbst reproduzierende Feebackschleife zu bestätigen? Ist seine Aufgabe die Verstärkung dieser Ängste ins schier Unermessliche, Hoffnungslose, wodurch er die Macht der US-Regierung und die der europäischen Geheimdienste zementiert, die mit der NSA kooperieren? Will er so Widerstände gegen Überwachung brechen?
Many people I’ve talked to have mentioned that they are careful about what they type into search engines because they know that it has been recorded. And that limits the boundries of their intellectual exploration.
Je mehr Menschen davon überzeugt sind, von der NSA überwacht zu werden, desto stärker wird auch ihr intellektuelles Potenzial eingeschränkt. Das offen geäußerte Anliegen von Snowden lautet, dass Glenn Greenwald seine Botschaft so schnell und so überzeugend wie möglich in die Öffentlichkeit bringen möge. Laura Poitras mit ihrem filmischen Talent ist für ihn ein Glückstreffer. Eine Oscar-Nominierung für seine Botschaft, die dadurch auch die kulturellen Teile der Welt erreicht, die sich bisher politisch wenig interessiert gezeigt haben: Kann man eine Nachricht überzeugender an ein Massenpublikum vermitteln? Diese Inhalte gehen auch ins kollektive Bewusstsein der Bevölkerungen von Staaten ein, die nicht mit den USA assoziiert sind. Misstrauen gegen die eigenen Regierungen wird geschürt. Kritisch denkenden Köpfen wird eine Meinungsblockade auferlegt.
Edward Snowdens Coming-Out

Edward Snowden wenige Augenblicke vor seiner Coming Out Ansprache an die Welt vor laufender Kamera. Quelle: CITIZENFOUR
Minute 66, CITIZENFOUR: Bereits als CITIZENFOUR verschlüsselte E-Mails an Laura Poitras schickt, will er sich gerne outen. Sein Name soll bekannt sein.
Paint the target directly on my back
Snowden möchte als Whistleblower in der vordersten Reihe des NSA-Skandals stehen. Geheimhaltung seiner Identität und Schutz seiner Person interessieren ihn nicht. Immer wieder schlägt er auch im Gespräch mit Greenwald vor, seinen Namen zu veröffentlichen und ihn zum Gesicht der NSA-Verschwörung zu machen. Endlich hat er sein Ziel erreicht. Greenwald und Poitras sind einverstanden. Sie hecken gemeinsam einen Plan aus, wie sie Snowden der Öffentlichkeit vorstellen können. Dazu zeichnen sie ein Gespräch mit ihm auf Video auf, in dessen Ablauf sich Snowden persönlich, ebenso wie seine Kompetenzen vorstellen soll. Snowden verhaspelt sich immer mehr, bis er in die Allgemeingültigkeit abdriftet.
Die wenigen Augenblicke vor dem Interview hat Laura Poitras unbemerkt aufgezeichnet und in den Film mit integriert. Edward Snowden strahlt fröhlich.
CITIZENFOUR macht Märchen wahr
Auch wenn Milliarden von Menschen an eine Lüge glauben sollten, wird sie davon nicht wahrer. Was die Verbreitung einer Lüge jedoch sehr wohl erreichen kann, sobald sie als wahr anerkannt ist, ist die de facto Durchsetzung dieser Idee. Denn wenn die Lüge als Wahrheit klassifiziert wird und demzufolge unabwendbar erscheint („wir können nichts mehr dagegen tun, die Totalüberwachung ist bereits da!“), ist es auch nicht mehr schwer, sie als Standard durchzusetzen.
Ein Interview mit Laura Poitras über den psychologisch-emotionalen Sog, der Snowden auf sie ausübte. Über Paranoia, über die fehlende Distanz von Poitras zu Snowden … und über unsere komplizierte Welt.
Die aktuelle Aufhebung der Blockade der Überwachung sämtlicher Flugdaten von allen Passagieren in Europa hat nichts mit Snowdens Enthüllungen zu tun. Es waren die Ereignisse um Charlie Hebdo Anfang des Jahres in Paris, die im Europaparlament den Widerstand gegen die Verletzung der Privatsphäre von europäischen Bürgerinnen und Bürgern brachen.
Oder waren es vielleicht doch auch ein wenig die Vorstellungen einer bereits existierenden allumfassenden Überwachung der Bevölkerung, die zur Akzeptanz dieses absurden Überwachungssystems geführt haben?
Was geht das EU-Parlament mein Reisegepäck an? Worauf muss ich in Zukunft achten? Bin ich verdächtig, wenn ich nur mit Handgepäck reise? Sollte ich lieber nur mit einem Koffer in den Urlaub fliegen, um nicht unter Terrorverdacht zu geraten? Oder doch besser mit zwei? Je mehr ich mich mit verschwenderischem Luxus umgeben werde im Urlaub, desto glaubwürdiger werde ich dann vermutlich sein … Wird „Gepäckdesigner“ ein neues Berufsbild werden?
Totalüberwachung in Deutschland
Erinnern Sie sich noch, welche deutsche politische Partei von Snowdens Enthüllungen am meisten profitierten wollte? Die Piraten! Julian Assanges früherer Wikileaks-Weggefährte Daniel Domscheit-Berg übergab sein Wahlplakat „Auch DU wirst überwacht“ medienwirksam an einen Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes. Die Anklagen der Piraten an die deutsche Regierung in Bezug auf die Überwachung der Kommunikation in unserem Land durch Geheimdienste wurden durch Snowdens Geschichte nicht nur bestätigt, sie wurden sogar weit übertroffen. Dankbar nahmen die Piraten die Botschaft an und verbreiteten sie eifrig weiter.
Gibt es heute noch Menschen in Deutschland, die ernsthaft die Anklage erheben würden, Edward Snowden sei ein Lügner, so wie es zahlreiche Stimmen im Jahr 2013 noch taten? Dafür gab es viel zu viele überzeugte Verkünder, Snowden sei ein Held. Wurden kritische Stimmen nicht schon längst erstickt und erwürgt? Klebt nicht auch ein „Deutsches Asyl für Snowden“ Sticker an der Eingangstüre meines liebsten Nerdclubs? Viele smarte Leute sind Mitglied. Edward Snowden streichelt die Eitelkeit der Technik-Gläubigen, stärkt ihre Überzeugung von der Macht der digitalen Evolution.
Wird Snowden nicht fast schon wie ein neuer Messias gefeiert?
Edward Snowden selbst führt sich bei bei Laura Poitras als zukünftiger Jesus Christus Superstar ein.
Minute 20, CITIZENFOUR: Laura Poitras liest aus verschlüsselten Botschaften ihres Informanten.
My personal desire is, that you paint the target directly on my back. […] And that is, by immediately nailing me to the cross, rather than protect me as a source.
Vorratsdatenspeicherung in Deutschland
Man muss sich die Frage stellen, wozu Deutschland die Vorratsdatenspeicherung überhaupt noch braucht, wenn die NSA in Kooperation mit ihren Partnern in Großbritannien und Frankreich doch bereits alles speichern und analysieren kann. Die naheliegendste Antwort ist ebenso plausibel wie möglich: Ohne Vorratsdatenspeicherung in Deutschland gibt es auch keine lückenlose Überwachung der Bevölkerung.
Die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland strikt abzulehnen und ihrer Legitimation zu widersprechen würde nach wie vor Sinn haben.
Überraschenderweise spricht sich CDU Datenschutzbeauftragte Andrea Voss sich seit jüngster Zeit gegen die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland aus. Hat die NSA die Überwachungshoheit in Germany via Ramstein mittlerweile durchgesetzt? Oder kündigt sich plötzlich ein Paradigmenwechsel in der deutschen Regierung in Bezug auf die Überwachung der eigenen Bevölkerung an?

SPIEGEL Redakteure in Berlin werfen einen Blick auf einen Datensatz. „GE Chancellor Merkel“ steht unter „Subscriber“. Quelle: CITIZENFOUR
Angela Merkel in Angst
Das private Telefon von Kanzlerin Angela Merkel wurde abgehört. Was für eine demütigende Behauptung von Edward Snowden. Welch Schmach für ganz Deutschland.
Im Film CITIZENFOUR wird ein Datensatz mit dem Namen Angela Merkel in Verbindung gebracht. Jeder Mensch mit einfachen Büro-Computerkenntnissen hätte so eine Datei zu Stande gebracht. Ist das der Beweis? Das glaube ich erst, wenn ich Liebesschwüre von Angie an Joachim im SPIEGEL wortwörtlich lese, dachte ich, als ich zum ersten Mal davon erfuhr. Natürlich gab es solche Passagen nie in den Medien. Vielmehr wurde deutlich, dass lediglich die unbewiesene Behauptung einer Überwachung im Raum stand.
Die Antwort auf die behauptete Überwachung? Mehr Überwachung.
Aber warum sollten wir diese Geschichte glauben? Sogar Laura Poitras hatte ihre Zweifel.

Angela Merkel ist ein Target. Kein Asset. Auf Deutsch: Ein Ziel, kein Spion. In Edward Snowdens Welt gibt es Codenamen nur für Geheimagenten. Quelle: CITIZENFOUR
Was macht diese Erkenntnis mit der inneren Stabilität der deutschen Kanzlerin?
Barack Obama kennt die Vorlieben meines Mannes für Koriander in der Kartoffelsuppe.
Wird sie dadurch stärker und vertreibt die Eindringlinge in das Privatleben der Deutschen aus dem Land? Wird sie gebrochen und empfängt die Vergewaltiger ihrer Privatsphäre mit offenen Armen, so wie Entführungsopfer sich in ihre Peiniger verlieben können?
Was passiert mit den Gefühlen der Millionen von Wählerinnen und Wählern in Deutschland, die nach der medialen Aufmachung des Abhörskandals davon ausgehen mussten, dass sogar die private Konversation ihrer Kanzlerin überwacht wurde? Sie gibt so kein gutes Vorbild für den Schutz der Privatsphäre.
Laura Poitras Rolle in CITIZENFOUR
Die Aktivistin und Filmemacherin Poitras genießt hohes Ansehen. Ihre regimekritischen Filme über die US-Besatzung im Irak (My Country, my Country) und die Auswirkungen von Guantanamo (The Oath) haben sie in die Position eines US-Staatsfeindes katapultiert. Schon dutzende Male sei sie am Flughafen verhört worden, erzählt sie. Wie ist es um ihre innere Stärke bestellt? Ist ihre Angst vor der US-Regierung so übermächtig geworden, dass die Enthüllungen Snowdens eine Erleichterung von ihrem Leidensdruck bedeuten?
Sieht sie in Edward Snowden einen Partner im Schmerz? In einem Interview mit Cicero räumt Laura Poitras ein, dass sie sich mit Snowden identifiziert und Sympathien für ihn hegt.

In CITIZENFOUR zeigt Laura Poitras großes Mitgefühl für ihren Informanten. Während Glenn Greenwald neugierig bis gespannt Snowdens Botschaft aufnimmt, zelebriert Poitras ein emotionales Band zwischen ihr und dem jungen Whistleblower. Spiegelt Snowden ihre Ängste und Hoffnungen? Hält sie seinen abgewandten, kalkulierenden Blick für rührende Schüchternheit?
Das Titelbild von CITIZENFOUR zeigt einen schelmisch lächelnden jungen Mann, der sich mit nach unten gerichtetem Blick ins Fäustchen lacht. Ist diese schalkhafte Darstellung Snowdens Absicht? Wie oft habe ich mich schon geärgert über Filmplakate, auf denen Frauen mit Blick auf den Boden dargestellt werden. Poetische Entrücktheit soll damit ausgedrückt werden, eine melancholische in-sich Gekehrtheit der gefühlsbetonten schönen Seele, von der man auch heute noch glaubt, diese Idee von vergeistigter Schüchternheit sei romantisch. Hält Laura Poitras ihren Edward Snowden für einen Träumer, der sie als Vertraute auserwählt hat? Missdeutet sie innere Befriedigung über eine erfolgreiche Übertragung von viralen Ideen in die Gesellschaft als rührend?

Edward Snowdens sieht fern. Als Glenn Greenwald auf CNN berichtet, dass Menschen bedroht werden, die das Geheimsystem der Geheimdienste aufdecken, grinst er amüsiert. Quelle: CITIZENFOUR
Poitras zeigt in ihrem Dokumentarfilm Edward Snowdens Reaktionen auf Glenn Greenwalds Enthüllungen in CNN mit TV-Bildern. Natürlich könnte es sich um eine Montagetechnik handeln, die die Aufnahmen aus dem Fernsehen mit Snowdens Porträt in Übereinstimmung bringt. Doch ich halte Poitras Bemühungen um Authentizität für glaubwürdig.
Wundert sich Poitras nicht über die amüsierte Freude Snowdens beim Betrachten dieser Bilder von Greenwald als Botschafter seiner Datensätze?
Glenn Greenwald möchte sich sicher fühlen
I also think, they are going to be paranoid in the extreme and assuming all kinds of worst-case scenarios, which is gonna, I think, make them react in ways that probably are not gonna likely being particularly rational on their part. But at the same time I do think they are limited for the moment.
Beschreibt Greenwald hier nicht seine eigene Situation?
I think the more public we are out there to feel like as journalists, the more protection that’s gonna give us as well.
Edward Snowden über Schauspielkunst

Einer der wenigen Momente, in denen Edward Snowden offen, symmetrisch und authentisch erscheint. „You can only act.“ Quelle: CITIZENFOUR
Minute 58, CITIZENFOUR: Edward Snowden öffnet sich Laura Poitras ohne Hemmungen. Zum ersten Mal erscheint er authentisch. Er spricht von seinem nunmehr vereinfachten Leben. Davon, dass er jetzt noch spielen muss – nicht mehr planen.
It is an unusual feeling that’s kind of hard to describe or convey in words but not knowing what’s gonna happen in the next day, the next hour, the next week … It’s scary, but at the same time it’s liberating. The planning comes a lot easier because you don’t have that many variables to take into play.
You can only act. And then act again.

„Ich habe mich freiwillig gemeldet“. Edward Snowden erklärt, nicht nervös zu sein. Er wusste schon vorher, was durch seinen Verrat auf ihn zukommen würde. Quelle: CITIZENFOUR
Edward Snowden bot sich der NSA freiwillig an
Minute 61, CITIZENFOUR: Edward Snowden outet sich als amüsierter Abenteurer.
Ewen McAskill:
Are you getting more nervous?
Edward Snowden:
Ahm … I mean … (lacht) No, I think, the way I look at stress, particularly because I sort of knew this was coming because I sort of volunteered to walk into it … ahm … I’m already sort of familiar with the idea, I’m not worried about it. When somebody like bust in the door suddenly I get nervous, but … I am eating a little less, that’s the only difference, I think (lacht laut).
Das berühmte Porträt des Whistleblowers Snowden stammt aus einem Interview mit einen Mann, der gut auswendig lernen kann, sich dann aber doch nicht alles merkt
Sie kennen sicherlich alle das Foto von Edward Snowden, das durch die Medien ging, nachdem seine Identität bekannt wurde. Monatelang war dieses Bild die einzige Repräsentation von diesem jungen Informanten. Eine mediale Ikone, die gleichsam Street Art Galerien und Arbeitsplätze von Systemadmins, Smartphonehüllen von Kulturwissenschaftlerinnen und Laptopdeckel von Hackern ziert.
Minute 67, CITIZENFOUR: Die Quelle des berühmten Snowden-Porträts wird im Film CITIZENFOUR erkennbar. Glenn Greenwald fordert Edward Snowden auf, seine Identität vor laufender Kamera zu bezeugen. Der extrem nervöse Snowden rattert mechanisch auswendig gelernte Datensätze herunter und vergisst dabei seinen Namen. Als er nach der Klassifizierung seiner Sicherheitsstufe gefragt wird, fällt Snowden nichts dazu ein. Schließlich wird er allgemein und spricht nicht mehr über sich selbst, sondern erklärt die typischen Befugnisse von Mitarbeitern der NSA.

Edward Snowden betrachtet einen Unbekannten im Spiegel. Quelle: CITIZENFOUR
Romanvorlagen für Edward Snowden
Minute 72, CITIZENFOUR: Edward Snowden steht im Bad seines Hotelzimmers am Spiegel, um mehr hilflos als gekonnt sein Aussehen zu verändern. Sein Gesicht wurde in den Medien nun weltweit als das eines Whistleblowers eingeführt. Man hört man aus dem Schlafzimmer die Stimme eines TV-Moderators, der in Bezug auf Snowden von einer Geschichte spricht, die aus einem John le Carré Roman stammen könnte. Ich schmunzle.
Das Ende von CITIZENFOUR
Minute 106, CITIZENFOUR:
That’s fucking ridiculous
Edward Snowden kann es kaum glauben, als ihm Glenn Greenwald neue, schockierende Details eines weiteren, namentlich nicht genannten Whistleblowers überbringt: Über die Ramstein Airbase in Deutschland sollen alle Drohnen-Anschläge koordiniert werden, notiert Greenwald für Snowden schriftlich, um nicht abgehört werden zu können. 1,2 Millionen Personen sollen auf der Watchlist der NSA stehen.
That’s an entire country
Snowden schüttelt den Kopf und Greenwald bestätigt:
I know.
Am Ende der Überwachungskette, als höchstes Glied, steht POTUS.

Die Tafel der Entscheidungen: Der Kopf der NSA ist der Präsident der Vereinigten Staaten, so Greenwald. Quelle: CITZIZENFOUR
Friedensnobelpreisträger Barack Obama, der seinen Wählerinnen und Wählern CHANGE versprochen hat, ist in Laura Poitras Film CITIZENFOUR das letzte Glied einer globalen Conspiracy gegen die Menschheit. Gegen die Freiheit. Gegen die Presse.
Obama ist Muslim
erklärt mir meine katholische Nachbarin verschwörerisch.
Sie wissen ja sicherlich aus der Presse, Muslime wollen die Weltherrschaft.
Ich möchte Laura Poitras verstehen

Im Berlinale Talents Workshop Programm wird Laura Poitras live aus New York via Vidyo Technologie in den Zuschauerraum übertragen. Wer ist diese Filmemacherin? Was treibt sie an? Wie denkt sie, wie sind ihre Pläne?
Die Übertragung der Diskussion mit Laura Poitras findet in einem Studio des Haus III im Hebbel Theater am Ufer statt. Poitras Ankündigung am Anfang desillusioniert mich, sie möchte sich stärker ins Privatleben zurückziehen. Kann sie dem Druck nicht länger standhalten, der ihr durch ihre filmische Arbeit entsteht?
Als sie 2003 einen Film über den Krieg im Irak drehte, hätte sie sich nicht vorstellen können, dass sie zehn Jahre später immer noch mit dem Thema beschäftigt sein würde, erzählt Laura Poitras. Sie ging auch davon aus, dass Guantanamo ein Jahr nach ihrem Film geschlossen sein würde, und zeigt sich enttäuscht darüber, dass das Gefangenenlager trotz ihrer Aufklärungsarbeit immer noch in Betrieb ist.
Hatte sie sich einen stärkeren Effekt von ihrer Kunst erhofft? Wünschte sie sich, dass Andere ihren Kampf für Gerechtigkeit weiterführen würden? Poitras wirkt in Bezug auf CITIZENFOUR positiv gestimmt und beruft sich hoffnungsvoll auf mutige Menschen, die kritisch denken, ihre Meinung äußern und sich trauen, Widerstand zu leisten.

Laura Poitras hatte sich bereits längere Zeit dem Thema „Überwachung der US-Bevölkerung durch die NSA“ gewidmet, ehe Snowden sie mithilfe verschlüsselter E-Mails kontaktierte. Nachdem sie für sich festgestellt hatte, erzählt sie, dass die Quelle echt sei, habe sie sich dazu entschlossen, in Hongkong alleine zu drehen, um kein Team-Mitglied einem unkalkulierbaren Risiko auszusetzen. Ihre Werke betrachtet sie sowohl als Journalismus, als auch als Kunstwerk und Dokumentarfilm. Für sie sind diese zwei Herangehensweisen untrennbar miteinander verbunden.
Fragen an Laura Poitras
Hast du jemals Angst um dein Leben oder deine Sicherheit gehabt, während du deine Filme gedreht hast, hast du dich jemals bedroht gefühlt?
Laura Poitras: „I mean … you know … there were certainly lots of risks when I was in Bagdad in 2004 and 2005, and there was a time when questioners were being kidnapped and being killed. But, those are things that you don’t know. There are dangers, they are not right in front of you.
In this film I did feel, you know, a certain sense of risk, that was involved. Maybe that’s a bit different. The experience of being out of your comfort zone is an external risk and what I felt when working on Intelligence Agencies is, it kind of gets more psychopathic. I mean, you can’t get away from it. So that’s then, you know, challenging. On a personal level, not knowing quite where my zone of privacy was, not knowing, what, you know, these Intelligence Agencies are capable of.
But I think maybe the risk was more legal, there are lot of legal issues. About the publishing format, about risks that might happen whether or not, for instance, could the UK, on a law of investigation, could they try to extradite me. Those were the conversations, that we had before.“

Welchen Rat gibst du jungen FilmemacherInnen, wie sie auf die Veränderungen der Gesellschaft reagieren sollen, die sich nach Charlie Hebdo ergeben?
Laura Poitras: „Ok (lacht). That’s a tricky question. I feel like that was an attack against, you know, freedom of expression. And so, I think, you know, as what you can do, to promote freedom of expression is really important. The scary thing is that we see governments react to try to chill expression, you know? And I think that’s the wrong response to this.
The right response is to say you defend freedom of expression, wherever it is. And, I mean, it’s a horrible tragedy, and, I mean … But how to, you know … grab that … I think we are all sort of here as artists and in the world. And in fact we express something whether we find ourselfs in it. So, I would say … you know … to make work and defend, you know, our right to express ourselfs.“
Wie siehst du deine moralische Rolle als Filmemacherin? Wie kommunizierst du diese Intentionen und wie kann Kino einen Dialog über Realität erzeugen?
Laura Poitras: „I mean … that’s what I feel like is kind of the hard work, I am interested in two kinds of things. I am interested in both how to increase empathy in the world. How to understand the complicated issues, from the human perspective including consequences. And in a way to build empathy, so that we have more understanding of the world.
And very interesting also, you know, creating primary documents. Because, you know, I think, that becomes evidence. It’s one way to have a debate in an abstract way about what does it mean to have a war, it’s very different to understand if you see it, if you have a visual representation what the consequences are for. So I, for me like, right now, understand as a US-citizen, that there has been a moral vacuum in the wake of 9/11 and that we need to get back on course.
I don’t think countries should be measured, their greatness, by their capacity to wage war. I think we are powerful democracies, powerful contries because of our ideas and because of our rights and our freedoms and so I do hope that there is a shift. And that’s one thing of being based in Germany that has such a, you know, really dark history into having a place where it’s not at war. You know, I met constant state of war. And that it’s possible to kind of deal with some historical reckoning, so as mainly to be in a world a bit differently. So I hope that that happens. And I think it would just make the world a more secure place.
The contradiction we have is that, you know, in the name of security I feel we are making a less secure world because we are using violence in ways it creates more antagonism towards us.“
Nach diesem Gespräch fühle ich mich Laura Poitras emotional verbunden. Sie repräsentiert ein kritisches Wertesystem, das ich unterschreibe, dem ich zustimme, das ich kenne und schätze. Sie wirkt authentisch, leidenschaftlich … und auch sehr gestresst.
Es wird die Aufregung vor der Oscarverleihung sein, vermute ich.

Laura Poitras gewinnt den Oscar für CITIZENFOUR
Während ich noch an der Transkription der digitalen Aufzeichnung von Poitras Gespräch arbeite, die eineinhalb Wochen vor der Oscar-Verleihung während des Berlinale Talents Workshop-Programms entstand, steppt in Los Angeles der Bär. Es ist mitten in der Nacht, kurz vor fünf Uhr. Ich schalte zum Online-Stream auf Pro7.
And the Oscar goes to …
Wie fühle ich mich? Bin ich überrascht? Ja. Ich hätte nicht erwartet, dass Jennifer Aniston den Oscar für den besten Dokumentarfilm überreichen würde. Die Entscheidung ist fair. CITIZENFOUR ist nicht nur dramaturgisch spannend aufgebaut, sondern auch filmisch hervorragend gelöst. John Maloof hatte mit Finding Vivian Maier keine Chance. Das politische Interesse an Fotos von einem paranoiden Kindermädchen verblasst neben erdrückenden Beweisen geheimer Macht. Ich hatte schon dafür trainiert, blitzschnell Screenshots vom Oscar Live Stream anzufertigen, damit ich Bilder von Laura Poitras Ansprache in diesen Beitrag einarbeiten kann. Den ebenfalls nominierten Dokumentarfilm Das Salz der Erde von Deutschlands größtem Filmemacher Wim Wenders werde ich mir bei Gelegenheit im Kino ansehen.
Liebe Laura, herzliche Gratulation zu diesem großen Erfolg!

Laura Poitras und Glenn Greenwald bei der Oscar-Verleihung. Was ist mit Poitras Blick passiert? Hat sie Angst? Befürchtet sie, ein Attentäter könne sie auf offener Bühne erschießen? Quelle: Pro7
Laura Poitras reißt während ihrer Ansprache auf der Bühne ihre Augen weit auf, als warte der Leibhaftige mit Höllenqualen auf sie. Was geht in ihr vor? Hat sie Todesangst? Ist das die Aufregung auf der Bühne? Hat sie Drogen genommen? Ist sie einfach glücklich?
Das letzte Wort ihrer kurzen Ansprache lautet TRUTH.
Ich halte Laura Poitras auch in diesem Moment für authentisch. Sie ist außer sich vor Freude über diese Anerkennung. Sie glaubt an die Kraft des Journalismus. Sie hat vollstes Vertrauen in Edward Snowden.
Laura Poitras liebt Edward Snowden.

Der OSCAR geht an CITIZENFOUR. Laura Poitras kämpft für die Wahrheit. Keira Knightley und Ehemann James Righton applaudieren beeindruckt. Quelle: ORF
Das Publikum von CITIZENFOUR
Wir befinden uns im Land des Kaisers, der neue Kleider trägt. Niemand kann die Wahrheit erkennen. Die UntertanInnen sind geblendet durch die Manipulation eines Betrügers. Nur ein Kind sieht intuitiv die Wahrheit, der Kaiser ist nackt. Offen spricht es seine Verwunderung aus. Seine Mitmenschen glauben ihm. Der Betrug fliegt auf. Finden wir dieses Phänomen auch im Kontext von CITIZENFOUR?
Eine Rezension des Tagesspiegel veröffentlicht die Kritik eines Jugendlichen.
Beim Abspann kommt es mir vor, als sei die ganze Geschichte nur ausgedacht, so absurd und unvorstellbar wirkt sie an einigen Stellen.
So schreibt der Autor David Friedeberg. Wer ist das?

Die Inszenierung CITIZENFOUR lebt
CITIZENFOUR ist in zahlreichen Quellen online zu finden. Einige davon von ihnen sind so absurd, dass sie Begeisterung in mir auslösen. Was für Irrungen und Wirrungen. Die Entwicklung des Films ist viel authentischer, als die Geschichte von Edward Snowden selbst.
Schauen Sie sich beispielsweise die Archive von Cryptome.org an. Der Tagesspiegel erläutert die Hintergründe.
Werfen Sie einen Blick auf die von Google gesperrten Suchergebnisse für CITIZENFOUR. Sie wurden auf Basis des US Digital Millennium Copyright Act (amerikanisches Datenschutzgesetz) von Google gelöscht, nachdem Rechteinhaber Beschwerde eingelegt hatten. Alle Links, die CITIZENFOUR jemals geleakt haben und entdeckt wurden, sind über Google verlinkt und fein säuberlich öffentlich aufgelistet.
Bald wird CITIZENFOUR nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt werden.
Wider die Vernunft
Während der Oscar-Verleihung wird in zahlreichen Ansprachen daran erinnert, wie wichtig es doch ist, offen seine Meinung äußern zu können. Ich fühle mich motiviert, weiter an diesem endo-kritischen Artikel zu arbeiten.
Wie oft hatte ich Zweifel an mir selbst

Es ist eine Illusion, wir würden in einer Gesellschaft leben, in der man ungestraft aussprechen darf, was man denkt, was man fühlt, was man für richtig hält. Meine Mitmenschen tendieren dazu, mich wegen Endo-Kritik an inszenierten medialen Narrativen anzugreifen oder sogar zu meiden. Öffentlich-rechtliches Whistleblowing findet keine Glenn Greenwalds, die Informationen ebenso überzeugt wie überzeugend weitergeben. Auf dieser Ebene der Kritik gibt es noch keine etablierten Kommunikationskanäle, es gibt keine fünfte Macht im Staat.
Ich kenne das schon aus anderen Kontexten. Sobald ich unglaubwürdigen Sachverhalten nicht zustimme und so den öffentlich-rechtlichen Deutungshoheiten einen übergeordnete Rahmen gebe, verliere ich in meinen Kontaktkreisen meine Glaubwürdigkeit. Meine Sympathie zerbricht. Die Liebenswürdigkeit löst sich auf. Ich werde dann nicht mehr so gerne eingeladen in soziale Gefüge.
Facebook und andere soziale Medien verstärken seit Jahren das Ähnlichkeitsprinzip. Menschen gruppieren sich mit Profilen, die ähnliche Ideen teilen. Gegenläufige Meinungen werden angegriffen, nicht selten mit verbaler Gewalt und zwischenmenschlicher Ächtung. NetzuserInnen halten sich von denen fern, die der eigenen Weltsicht widersprechen.
Bringt es meinem Self-Branding Vorteile, wenn ich gegen die Fahrtrichtung dieser vierspurigen Citizen-Autobahn steuere?
Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden, heißt es. In diesem Fall bin ich diejenige, die über CITIZENFOUR anders denkt. Ich lasse mir meine Freiheit nicht nehmen, Kritik an Darstellungen Snowdens zu üben. Ich werde diesen Artikel nicht aus dem Netz nehmen, obwohl ich mich dadurch in Gefahr bringe.
Oder soll ich vernünftig sein?

„Selbstzensur“ ist ein beliebtes Wort nach den Anschlägen um Charlie Hebo.
Siegesgewiss kann man in zahlreichen Medien Trotz und Stolz finden, wenn es um die Diffamierung des Islam geht, die man sich nicht verbieten lassen wolle. Soll auch ich um meine Meinung kämpfen? Ist es den Versuch wert?
Eine Journalistin mit akademischem Hintergrund schwärmte bei einer Konferenz über Budgets, die große Zeitungen wie die SÜDDEUTSCHE, die ZEIT und andere Leitmedien nun wieder in investigativen Journalismus investieren.
Blogger klären solche Zusammenhänge einfach nicht auf.
Ich möchte laut widersprechen.
WER klärt diese Geschichten auf, wenn nicht Blogger?
Über den investigativen Endo-Ansätzen von unbekannten, freien Individuen ohne etablierte Redaktion im Rücken, die die Kritik kritisieren, schwebt der Pleitegeier der Überzeugung. Er krächzt „Verschwörungstheorie, Verschwörungstheorie!“ Ich behalte diesen Zwischenruf für mich und frage stattdessen öffentlich „Aber warum klärt dann niemand die Darstellung von XYZ auf?“ Der Moderator bricht das Gespräch ab.

Meinen Impuls unterdrücke ich, diesen Artikel über meine Endo-Kritik von CITIZENFOUR schnell wieder offline zu stellen. Nachdem meine Überlegungen gegen die mediale Macht dieses multipel preisgekrönten Tsunamis pro Meinungsfreiheit keine Chance auf Gehör mehr haben werden, zweifle ich dennoch an der Sinnhaftigkeit meines Tuns.
Nein. Ich werde meine Arbeit nicht verstecken. Ich bin stolz darauf. Was ich gesehen habe, was ich hier entdeckte, das ist spannend. Vielleicht erschaffe ich hier ganz im Sinne von Laura Poitras Empfehlungen ein dokumentarisches Zeitdokument, von dem sich Menschen heute wie auch später inspiriert fühlen werden. Ich bin Informantin im Sinne der Wahrheit.
Mögen mich heute auch alle meine Leserinnen und Leser für paranoid halten und mir in Zukunft aus dem Wege gehen – das muss mir egal sein. Hauptsache, ich habe meine Meinungsfreiheit verteidigt.
Wirklich?
„Wider die Vernunft“ kann auch heißen, dass man in anderem Sinne gegen die Vernunft arbeitet, als sich in einer falschen Wirklichkeit zu verstricken. Der mütterliche Spruch „Kind, sei doch vernünftig“ kann auch heißen: „Bring dich nicht in Gefahr.“ Gefahr? Welche Gefahr? Ich habe keine Angst vor Geheimdiensten. Mögen sie meine ganze Wohnung verwanzen, bitteschön, dann erleben sie eine interessante Person, die sich nicht furchtsam selbst den Mund verbietet. Wenn überhaupt, dann habe ich Angst vor sozialer Isolation. Wer hätte sie nicht?
„Kind, sei nicht paranoid“ würde also nicht heißen „Kind, sei nicht unvernünftig“ würde also heißen „Kind, akzeptiere die Paranoia, damit es dir im Leben gut geht“.
Die Paranoia, wider den Verstand, wird zur Wahrheit der Mehrheit. Die Wahrheit der Mehrheit versetzt mich in den Status einer paranoiden Autorin, wenn ich gegen die Paranoia der Mehrheit anschreibe. Wenn ich Parakritik an der Kritik übe. Die Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden, ist für mich viel konkreter, als die Gefahr, durch Geheimdienste verletzt zu werden. Zeige ich also eine paranoide Reaktion, wenn ich der Paranoia der Öffentlichkeit zustimme und meinen Artikel aus dem Netz nehme? Oder handle ich dann paranoid, wenn ich gegen meine Erfahrung von möglichem Geschnittenwerden durch die Mehrzahl der Andersdenkenden meinen Status als glaubwürdige Bloggerin aufs Spiel setze?

Am Ende der Anti-Paranoia wird immer die Paranoia stehen, am Ende der Paranoia die Paranoia, am Ende der Anti-Paranoia die Anti-Paranoia, die in sich paranoid sein kann. Der psychopathische Anteil an der Geschichte ist kaum noch zu überbieten, den Laura Poitras und Glenn Greenwald in CITIZENFOUR ansprechen.
Die Kämpferin für Meinungsfreiheit Laura Poitras transportiert exogen den Samen der Würgepflanze Angst in die Gesellschaft, die die Meinungsfreiheit endogen erstickt.
Paranoia OFF
Ich schließe mit mir selbst einen Kompromiss: Der Artikel bleibt online. Und damit lege ich das Thema „Snowden, Edward Snowden“ in die Schublade. Ich will nicht länger im Rahmen einer Endo-Kritik auf die medialen Werke von paranoiden Menschen reagieren müssen. Lieber möchte ich selbst Geschichten ins Rollen bringen. Ich möchte nützliche Projekte unterstützen, spannende „Methoden designen“, meine eigene Verstrickung auflösen. Meine Mitmenschen glauben an Totalüberwachung. Oder auch nicht. Manchmal glaube ich zu empfinden, dass es sie gibt. Mein Verstand hält dagegen. Wer hat Recht? Meine Gefühle könnten beeinflusst sein von den Ideen meiner Mitmenschen. Mein Verstand könnte geblendet sein von falschen oder verwirrenden Informationen.
Will ich meine Gedanken vor Paranoia und Terror schützen, kann ich nicht einfach den Fernseher ausschalten und um den Zeitungsstand beim Bäcker einen großen Bogen machen. Die Themen erreichen mich auf Facebook, in der U-Bahn, beim Netzwerken, beim Telefonieren mit Mama, durch die Wand zur Nachbarwohnung, wenn dort der Fernseher läuft. Wie kann ich mein Bewusstsein vor Psychopathen und ihren Designmethoden schützen?

Epilog
Es ist 7:40 Uhr, 23. Februar 2015. Die Oscar-Verleihung hat mir den Schlaf geraubt. Bis jetzt habe ich an diesem Artikel gearbeitet.
Die Sonne ist hinter einem wolkenverhangenen Himmel aufgegangen. Auf dem Geländer meines Balkons landet eine Taube. Ich erschrecke. Ist das eine Drohne? Sie schaut ganz natürlich aus. Ist die Taube ist vielleicht dressiert, trägt sie eine Kamera um den Hals ..?
Die Taube gurrt fröhlich